Persönlichkeitsentwicklung – ein nie abgeschlossener Prozess
Wenn Sie zehn Jahre zurückblicken und sich in die Person hineinversetzen, die Sie damals waren - haben Sie sich seither verändert? Eine Studie von Jordi Quoidbach zeigte, dass sich seine Probanden in den letzten zehn Jahren deutlich verändert hatten. Wurden sie jedoch nach ihren zu erwartenden Veränderungen für die nächsten Jahre gefragt, gingen die meisten davon aus, dass sie zukünftig so bleiben würden, wie sie derzeit sind. Quoidbach bezeichnete dieses Phänomen als die „Illusion vom Ende der Geschichte.“ Unsere Persönlichkeit entwickelt sich jedoch immer weiter. „Es gibt kein Schlusspunkt, an dem unsere Persönlichkeit fertig ist“ sagt der Entwicklungspsychologe Werner Greve.[1]
Was formt unser Ich?
Lange galt die Lehrmeinung, dass vor allem unsere Kindheit unsere Persönlichkeit prägt. Auch wenn die Kindheit großen Einfluss hat, zeigen neuere Forschungsergebnisse, dass die ersten Jahre längst nicht so wichtig sind wie jahrzehntelang angenommen wurde. Auch das Dogma der Persönlichkeitspsychologie, dass spätestens ab dem 30. Geburtstag unser Charakter vollendet ist, gilt inzwischen als überholt. Es sind hingegen die vielfältigen Begegnungen und Erfahrungen, die wir im Laufe des Lebens machen, die unser Ich immer weiter reifen lassen. Wer zum Beispiel im Ausland gelebt hat, ist durch diese Erfahrung offener geworden. Die erforderlichen Anpassungen an neue Situationen bringt dies automatisch mit sich. Einen großen Einfluss hat generell die Selbstwirksamkeitserfahrung. Wenn wir merken, dass wir mit einem bestimmten Verhalten gut bei anderen ankommen oder damit unseren Zielen näherkommen, wiederholen wir es. So wird aus unserem Verhalten nach und nach eine Gewohnheit und schließlich ein Charakterzug. Unser Charakter bestimmt dann unser Leben oder wie es Karls Jaspers formulierte: „Der Mensch wird zu dem, der er ist, durch die Sache, die er zur seinen macht.“
Kann man bewusst die Entscheidung treffen, seine Persönlichkeit zu verändern?
Zwillingsstudien belegen, dass wir etwa zur Hälfte durch das genetische Erbe der Eltern festgelegt sind. Das ist der stabile Teil unseres Charakters. Damit sind immer noch 50 % unseres Wesens auch flexibel veränderbar.[2] Und hier gilt: ja, man kann sich bewusst und zielgerichtet verändern – wenn man es wirklich will. Der Wunsch, anders zu sein, reicht allerdings längst nicht aus, um auch anders zu werden. Dies erfordert, neue und gewünschte Verhaltensweisen festzulegen und sie dann immer wieder einzuüben. So speichert das Gehirn ab, dass wir tatsächlich zu diesem Verhalten in der Lage sind. Die Wiederholung prägt sich ein und wirkt nach und nach auch auf unsere Persönlichkeit. Jule Specht, Professorin mit dem Forschungsgebiet Persönlichkeitsentwicklung an der Humboldt Universität sagt dazu: „Man kann seinen Charakter bewusst verändern indem man neue Erfahrungen macht.“[3]
Selbstbestimmt oder fremdbestimmt? Vorsicht vor zu hohen oder fremden Idealen
Die Frage, wie will ich sein, beinhaltet auch den Aspekt, warum will ich anders sein? Will ich damit die Erwartungen anderer erfüllen oder geht es bei dem Wunsch wirklich um mich selbst? Versuche ich erfolgreicher oder attraktiver zu werden, weil ich mir davon mehr Anerkennung verspreche? Solche Fremd-Ziele äußern sich oft in Gedanken wie „ich muss“ oder „ich sollte“. „Wenn das gesteckte Ziel einen Absolutheitscharakter hat, ist es ein ziemlich sicheres Indiz, dass es nicht frei, nicht selbstbestimmt gewählt ist“ sagt Prof. Dr. Michael Brodt.[4]
Den Mut finden, nach den eigenen Bedürfnissen zu leben
In ihrem Buch „Was Sterbende am meisten bereuen“ beschreibt die Bestseller-Autorin Bronnie Ware wie Menschen ihr Leben rückblickend bewerten. „Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, weniger nach den Bedürfnissen anderer zu leben“ ist auf Platz 1 der Dinge, die Sterbende am meisten bereuen[5]. Eine Studie des Bundesinstituts für Berufsbildung BIBB[6] von 2019 zeigt, dass auch heute noch viele Jugendliche einen Beruf, der sie interessiert hätte, nicht wählen. Der Grund: sie rechnen damit, dass der Beruf bei Eltern und Freunden nicht gut ankommt. Echte Lebenszufriedenheit entsteht jedoch nur, wenn wir unseren eigenen inneren Bedürfnissen folgen, nicht, wenn wir nach den Idealen und Werten von anderen Menschen leben. Das erfordert zum aktiven Gestalter des eigenen Lebens zu werden, statt sich passiv treiben zu lassen oder von anderen steuern zu lassen. Voraussetzung dafür sind Selbstreflexion, Selbstakzeptanz und den Mut, sich zu unterscheiden und eigene Wege zu gehen.
Wie gelingt es, das passende Wunsch-Ich zu finden?
Wenn innere Gefühle und Überzeugungen einen stimmigen Ausdruck im äußeren Leben finden, können wir Erfüllung erlangen.[7] Dann sind Menschen authentisch und zufrieden.
Das stimmige Leben zu finden ist ein andauernder Prozess. In jeder Lebensphase können sich Bedeutsamkeiten verschieben. Die vielen Möglichkeiten, die uns das Leben heute bietet, fordern dazu heraus, sich mit der Frage auseinanderzusetzen „Was will ich wirklich?“ Krisen sind häufig Anlass, sich selbst mehr zu erforschen. Auch der Lockdown in der Corona-Krise bot Gelegenheit, das eigene Leben zu überprüfen: Was ist mir wirklich wichtig in meinem Leben? Was fehlt mir und was fehlt mir überhaupt nicht? Unabhängig von Krisen ist eine Reflexion der eigenen Lebenssituation immer mal wieder sinnvoll: Bin ich am richtigen Platz in meinem Leben? Macht es mich froh, was ich tue? Wie will ich sein? Was passt zu mir? Was macht mich glücklich? Wo entwickle ich Energie? Wo spüre ich, dass ich wach werde? Was inspiriert mich? Was nährt mich? Was gibt mir Kraft? Dies sind wichtige Fragen auf dem Weg zum authentischen und zufriedenen Selbst.
Ein Experiment von Laura King, Professorin an der University of Missouri, zeigt, dass diese Art der Selbstreflexion einige positive Effekte mit sich bringt. Sie gab ihren Probanden die Aufgabe, an vier aufeinanderfolgenden Tagen je 20 Minuten detailliert aufzuschreiben, wie sie sich ihr bestmögliches Ich vorstellen. Sie sollten sich dabei vor allem detailliert ausmalen, wie dieses Ich handelt. Die meisten Versuchsteilnehmer berichteten unmittelbar nach dem Experiment über eine Steigerung ihres Wohlgefühls, sie fühlten sich auch Wochen später noch glücklicher und litten an weniger Krankheiten.[8]
Die Macht des Tuns
Das träumerische Schwelgen in dem Wunsch-Ich reicht noch nicht aus, um dauerhafte Veränderungen im Leben zu bewirken. Veränderungen gelingen letztendlich nur durch Handeln. William James, Philosoph und Harvard Professor erkannte bereits Ende des 19. Jahrhunderts die Bedeutung des Handelns für die Veränderung: „Wünschst Du Dir eine bestimmte Eigenschaft, dann handele so, als ob Du sie schon hättest.[9] Die moderne Variante heißt: „Fake it till you make it.“ Wer sich verändern will, muss also etwas Neues machen oder etwas anders machen als bisher und damit die eigene Komfortzone verlassen. Am erfolgversprechendsten sind hier Mini-Experimente oder kleine Schritte der Veränderung. Wer sportlicher werden will, kann mit Spaziergängen beginnen, statt sich gleich im Fitnessstudio anzumelden. Merkt das Gehirn: „Es klappt, das kann ich und es fühlt sich gut an“, ist es bereit, mehr davon zu tun. Erfolgserlebnisse und gute Gefühle sind die Verstärker, die unser Gehirn anfeuern, neues Verhalten weiter auszubauen. So lassen sich nach und nach neue Gewohnheiten etablieren und damit ein neues, besser passendes und authentischeres Ich gestalten.
© Petra Weber, Coachingzentrum Heidelberg
[1] Berndt, Christina (2020). Idividuation – wie wir werden, wer wir sein wollen. München: dtv
[2] „Wer könnte ich sein?“ in Geo WISSEn Nr. 66, Okt. 19
[3] Berndt, Christina (2020). Idividuation – wie wir werden, wer wir sein wollen. München: dtv
[4] Wie können wir zu uns selbst finden?“ in Geo WISSEn Nr. 66 ,Okt. 19
[5] Ware, Bronnie (2013). 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen. Arkana Verlag 2013
[6] https://www.bibb.de/de/pressemitteilung_94366.php
[7] „Lebensziele – was will ich wirklich?“ in Geo kompakt Nr. 57 „Das starke Ich“
[8] Lyubomirsky, Sonja (2018): Glücklich sein - Warum Sie es in der Hand haben, zufrieden zu leben. Campus Verlag
[9] Berndt Christina: Individuation - Wie wir werden, wer wir sein wollen S. 204
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